Das Kind 11FREUNDE
Seit gut zwei Jahren kommt bei der Übertragung großer Fußballspiele eine neue, ziemlich spektakuläre Kamera zum Einsatz: die „Cinematic Look Camera“. Sie verspricht, wie der Name schon verrät, ein Bild im cineastischen Stil. Das gelingt durch eine extreme Tiefenunschärfe, durch die ein klarer Fokus gesetzt wird. Wer keine Ahnung hat, wovon die Rede ist, der sollte beim kommenden WM-Finale zum Beispiel mal bis zum Abpfiff warten und sich die Bilder anschauen, die in den Momenten entstehen, wenn die Spieler sich auf dem Rasen abklatschen, zum Schiedsrichter gehen oder in die Kurve Richtung Fans watscheln. Denn da kommt die Kamera häufig zum Einsatz. Und vermittelt eine solche Nähe, dass es den Zuschauer wie in einem Videospiel förmlich hineinzieht. Für den Fan, dem das Bildmaterial auf sein Endgerät projiziert wird, übersteigt die Qualität alles in der Fußballübertragung bis hierhin gesehene. Für denjenigen, der von dieser Kamera eingefangen wird, in diesem Fall der Spieler, sieht das schon anders aus. Denn die Bildqualität legt schonungslos jedes noch so kleine Detail offen. Jede Hautirritation und jede mimische Entgleisung wird einem Millionenpublikum hochauflösend präsentiert. Im April dieses Jahres, lang bevor die Weltmeisterschaft angefangen hat, bekam Dortmunds Giovanni Reyna das komplette Leistungsvermögen der „Cinematic Look Camera“ zu spüren. Und zwar in seinem schwächsten Moment.
Über sieben Monate war der Amerikaner wegen einer Muskelverletzung ausgefallen, in Summe verpasste er 29 Pflichtspiele. Ehe er am 29. Spieltag in Stuttgart erstmals wieder in der Startaufstellung ran dufte. Keine Minute war gespielt, da ging Gio Reyna in sein erstes Laufduell mit Gegenspieler Borna Sosa. Ein langer Schritt, ein Stechen im Oberschenkel, ein Griff an die Oberfläche, unter der Muskel und Sehne liegen. Und. Raus. Bist. Du.
Allein im Schmerz, beobachtet von Millionen
Als Reyna kurz darauf Richtung Seitenaus humpelte, herzten ihn seine Mitspieler – Bellingham, Reus, Haaland, Hummels – niemand ließ es unversucht, ihm ein aufmunterndes Wort mitzugeben, auch zwei Stuttgarter Spieler, an denen er zufällig vorbeilief, klapsten ihm aufmunternd auf den Hinterkopf. Reyna kämpfte mit den Tränen, hielt sie so gut es ging zurück, so lange er noch auf dem Platz stand. Als er das Spielfeld verlassen hatte, brach es aus ihm heraus. 19 Jahre war er zu diesem Zeitpunkt jung, er fing sintflutartig an zu weinen. Und sein ohnehin schon junges Gesicht verkindlichte sich noch ein gutes Stück. Das Blöde für ihn: Die superscharfe „Cinematic Look Camera“ war in diesen Sekunden genau auf sein Gesicht gerichtet. Und so war Giovanni Reyna in diesem schwächsten aller Momente zwar ziemlich allein mit seinem Schmerz, wurde allerdings von einem erbarmungslosen Spezialapparat mit famoser Tiefenschärfe und grandioser Fokussierung ins Stadioninnere geleitet. Und jeder hat es gesehen.
Dieses Bild hat sich bis heute verfangen. Reyna, der Sensible.

In diesen Tagen hat sich dann ein weiteres Bild hinzugesellt, das mit eben Beschriebenem eigentlich so gar nicht zusammenpasst und das auch nicht zu der öffentlichen Wahrnehmung von Gio Reyna passt. Vergangene Woche erzählte nämlich Nationaltrainer Gregg Berhalter auf einer Veranstaltung in New York von einem Spieler, der das gesamte US-Team bei der WM in Katar gespalten hätte. „Wir hatten einen Spieler, der die Erwartungen auf und neben dem Spielfeld eindeutig nicht erfüllt hat“, sagte Berhalter. Dieser Spieler soll derart lustlos aufgetreten sein, dass er sogar nach Hause fliegen sollte. Nur eine Ansprache im Teamhotel, in der er sich bei der versammelten Mannschaft entschuldigte, hätte seinen Rausschmiss noch verhindert. Daraufhin soll es ein Votum gegeben haben, bei dem seine Mitspieler entscheiden durften: Dreizehn stimmten für seinen Verbleib, zwölf wollten ihn nach Hause schicken. Zwar war Gregg Berhalter im Vagen geblieben, um welchen Spieler es sich handelte, The Athletic aber wusste schon am nächsten Tag, dass es um Giovanni Reyna ging. Reyna selbst hat sich über Instagram mittlerweile geäußert und berichtet, er sei „am Boden zerstört“ gewesen, als Berhalter ihm vor Turnierbeginn nur eine Nebenrolle im Team in Aussicht gestellt hatte, damit sei sein lustloses Auftreten im Training erklärt. „Mir wurde gesagt, mir sei vergeben worden“, schreibt er. Auch sei er sehr überrascht, dass der Trainer nun mit diesen Interna an die Öffentlichkeit gegangen ist.
Bei Borussia Dortmund wollen sie nicht wirklich glauben, was über ihren Spieler berichtet wird. „Die Inhalte der Berichterstattung über Gio Reyna haben uns in den letzten Tagen schon sehr gewundert”, sagte Sportdirektor Sebastian Kehl der dpa. „Wir kennen den Jungen seit vielen Jahren, obwohl er erst 20 ist. Wir erleben ihn als guten Typen, der professionell arbeitet und in der Kabine ein geschätzter Teamkollege ist”, sagte der Sportchef weiter. „Dass dies nach einigen wenigen Tagen in Katar nun grundsätzlich in Zweifel gezogen wird, ist für uns beim BVB nicht nachvollziehbar und wird Gio Reyna nicht gerecht.”
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